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Immer häufiger hört man Online, im Beruf oder auch im privaten das politische Schlagwort Cancel Culture. Doch was genau hat es damit auf sich?

Cancel Culture?

Diese moderne Form des Prangers wird manchmal auch Call-out Culture genannt. Wer etwas Diskriminierendes sagt oder tut, egal ob Online, Im Beruf oder privat, wird „gecancelt“. Dies bedeutet das der Betroffene nicht mehr auftreten soll, seinen Job verlieren oder nicht mehr Teil einer Freundesgruppe sein darf.

Zwar erwischt diese Form des Boykotts auch Privatleute, doch meist stehen prominente Menschen oder Gruppen dabei im Mittelpunkt. Diese sollen aufgrund von fragwürdigen oder kontroversen Handlungen gemieden werden.

Schon Mitte 2010 wurde dieser Begriff von schwarzen Twitter-Usern im englischen Sprachraum verwendet. Diese kritisierten problematisches Verhalten von Prominenten und forderten auf, dieses Verhalten nicht länger zu tolerieren.

Cancel Culture ist heutzutage nicht nur in Deutschland ein politischer Begriff. So versuchte in der Bundesrepublik beispielsweise die AfD diese Cancel Culture gegen die Kabarettistin Lisa Eckhart zu benutzen.

Woher stammt der Begriff?

Wenn man vielen Autoren glauben schenken mag, findet der Begriff seinen Ursprung im Film „New Jack City“ von 1991. Genauer im Song „Your Love is Cancelled“ aus dem Jahr 1981 von der Band Chic.

Selina: „You´re a murderer, Nino. I´ve seen you kill too many people Nino.“

Nino Brown: „Cancel that bitch. I´ll buy another one.“

– Barry Michael Cooper: New Jack City

Angelehnt an diese Textzeile verbreitete sich 2014 der Ausspruch „You´re canceled“ in diversen US-amerikanischen Reality-Shows. Auch wurde der Begriff schnell in den Social-Media-Kanälen übernommen. Die Annahme in queeren und schwarzen Communities war dabei besonders hoch. Zunächst noch ironisch, wurde so der demonstrative Verzicht auf ein bestimmtes Kulturprodukt genannt. Zeitgleich entwickelte sich das Konzept des „Call-Outs“ was in Deutsch „zur Rede stellen“ bedeutet. Damit stellt man als problematisch empfundene Verhalten sowie Medienprodukte vor.

Erst 2016 tauchte Cancel Culture auch vermehrt in den Social-Media-Kanälen auf. Im November 2017 verteidigte die afroamerikanische Autorin Shanita Hubbard damit die Turnerin Gabby Douglas. Diese sagte aus, dass Frauen durch ihre Kleidung eine Mitschuld für sexuelle Missbräuche hätten.

In den darauffolgenden Monaten fand der Begriff immer mehr Verbreitung im Sinne einer Kritik an der Praxis des Cancelns. Dadurch setzte sich der Begriff Cancel Culture immer mehr durch.

Die Wirkung

Der Begriff gilt als umstritten. Zwar sind die Proteste gegen andersartige Meinungen nicht neu, doch erlaubt es die Cancel Culture besonders online stärker präsent zu sein. Die Debatten über die Angemessenheit diverser Handlungen erwecken oft den Eindruck das sich eine neue Form von linker Aggression entwickelt.

In den sozialen Medien geht es meistens um soziale Gerechtigkeit, Sexismus, Heterosexismus, Homophobie und Rassismus.  Dabei stehen im Fokus meist die Personen, welche entweder wegen ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe von der Gesellschaft als privilegierter angesehen werden. Nicht selten werden durch diese Beschuldigungen der Ruf von betroffenen Personen geschädigt.

Zuletzt wird der Begriff der Cancel Culture auch im Zusammenhang mit kulturellem Erbe verwendet. Beispiele hierfür sind Denkmäler von Kolonialisten sowie Blackfacing.

Cancel Culture in Deutschland

Der Tagesspiegel sowie Die Welt brachten im August 2019 anhand der Ausladung des AfD-nahen Malers Axel Krause von der Leipziger Jahresausstellung im selben Jahr ein Beispiel der Cancel Culture in der Bundesrepublik.

Im gleichen Jahr erschien ein Artikel der Autorin Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Thema. Sie sprach davon, dass die Cancel Culture zwar in Deutschland angekommen sei, aber mit dem in den USA nicht vergleichbar wäre.

Anlässlich ihres 100. Geburtstags veröffentlichte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahr 2020 eine Stellungnahme des Komikers Dieter Nuhr. Durch seine wissenschaftlich fragwürdigen Relativierungen der Corona-Pandemie und des menschengemachten Klimawandels, stieß dieser zuvor auf heftige Kritik. Nach der Löschung von dessen Beitrag, entschuldigte sich die DFG bei Ruhr. Durch die teils aggressiven Online-Diskussionen war eine klare Einschätzung unmöglich gewesen. Dabei stellten sie seinen Artikel wieder online. Johannes Franzen, ein Literaturwissenschaftler wies darauf hin, dass diese Diskussionen meist von Vertretern der wissenschaftlichen Community hervorgebracht wurden und nicht wie gerne behauptet wurde, von einem anonymen „Mob“.

Im gleichen Jahr wurde Lisa Eckhart vom Harbour-Literatur-Festival ausgeladen. Grund dafür waren die Absagen zahlreicher anderer Autoren, die dies damit begründeten, dass Eckhart sich in ihren Texten rassistischer sowie antisemitischer Klischees bediente. Die Autorin betonte das es sich dabei um ein Missverständnis in der Interpretation ihrer Texte handelte.

Erst 2021 gab es bei der umstrittenen Aktion #Allesdichtmachen eine heftige Reaktion was auch Forderungen laut machte, die TV-Verträge von beteiligten Schauspielern aufzukündigen.

Stimmen gegen Cancel Culture

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, welches im Februar 2021 gegründet wurde, möchte Opfern der Cancel Culture ihre Unterstützung anbieten. Laut der Süddeutschen Zeit, handelt es sich dabei um ein konservatives Netzwerk. Fragt man jedoch die Tageszeitung „Neuen Deutschland“, ist die politische Ausrichtung dieses Netzwerkes nicht eindeutig feststellbar, da sich auch Vertreter der Linken darin befinden.

Im Juli 2020 erhielt ein Schreiben mit dem Titel „Ein Brief über Gerechtigkeit und offenen Debatten große mediale Aufmerksamkeit, welches im US-amerikanischen Harper´s Magazine abgedruckt wurde. Dieses Schreiben unterzeichneten über 150 Personen, darunter bekannte Autoren und Autorinnen wie J.K. Rowling oder Daniel Kehlmann. Zwar taucht im gesamten Brief der Begriff nicht einmal auf, dennoch wird dieser als Kritik an der Cancel Culture in den USA angesehen.

Steven Pinker, einer der Namen unter dem Brief begründete dies, weil die Cancel Culture das Leben von unschuldigen Personen ruiniert. Zudem werden Mitglieder von jüngeren Generationen von ihren „Vorbildern“ eingeschüchtert und trauten sich daher nicht mehr ihre eigene Meinung zu äußern.

Kritiker sehen in der Cancel Kulture keine sachliche Wiederlegung provokanter Behauptungen, sondern das Ziel, ihre Urheber zu diskreditieren. Kritiker weißen daher darauf hin, dass man statt des vorschnellen „Cancelns“ die jeweiligen Einzelfälle differenziert betrachten muss. Loretta Ross spricht sich beispielsweise auf versöhnliche, transformatorische Herangehensweisen an Meinungsverschiedenheiten aus anstelle der Cancel Culture.

Viele Kritiken gehen dahin, dass ökonomische Ungleichheiten zugunsten der Kategorien Race und Gender vernachlässigt werden. Dies würde zudem von zentralen sozialen Problemen ablenken.

Die Kritik am Begriff

Auch gegen den Begriff selbst gibt es Kritik. So weißen viele darauf hin, dass dieser meist von Personen aus privilegierter Stellung verwendet wird. Ein gutes Beispiel dafür seinen die Unterzeichner des „Briefes über Gerechtigkeit und offene Debatten“. Diese seien es gewohnt, dass ihre Ansichten mit Respekt angehört würden. So sahen sie es als Angriff auf ihre Redefreiheit als eine Hinterfragung ihrer Autorität. Diese münden in historisch tief verankerte hegemonialer Machtverhältnisse.  Die Infragestellung der Cancel Culture geht nicht nur von den sozialen Medien aus, sondern auch von benachteiligten Gruppen. Auch die jüngeren Generationen fordern Auseinandersetzungen auf Augenhöhe.

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump ist ein Beispiel dafür, dass die Cancel Culture nicht nur von linken oder Identitätspolitischen Initiativen verfolgt wird. Als Konservative Kritiker verfolgte er exzessiv Strategien der Aufkündigung des Dialogs und der Denunziation einzelner Personen, Organisationen oder Medien. Teilweise hat Donald Trump mit ungerechtfertigten Vorwürfen versucht, seine politischen Gegner oder kritische Journalisten aus ihrer Arbeit zu drängen.

Als ein emotional aufgeladenes Modewort bezeichnete die Deutsche Welle die Cancel Culture in einem Beitrag. Anstatt einer inhaltlichen Diskussion werden mediale Scheingefechte in der deutschen Presse geführt. Diese mediale Aufregung sei ebenso nutzlos wie der Begriff selbst.

Pro & Contra

Auch innerhalb der Kritiker bilden sich mehrere Lager. Die einen sehen darin eine Gefährdung der Meinungsfreiheit, während die anderen Intoleranz gegenüber „Mainstream-Meinungen“ vorwerfen. Teilweise steht dabei auch der Vorwurf der Zensur im Raum.

Cancel Culture sei nicht dafür da, Debatten zu führen und Probleme tatsächlich zu lösen. Es ginge dabei lediglich um Diskreditierung. Meistens wird dabei der Punkt außer Acht gelassen, dass kein Mensch perfekt ist und ein einzelner Fehler daher nicht sofort zur öffentlichen Ächtung führen darf.

Diesen Kritikern gegenüber steht eine Gruppe, welche die Cancel Culture entspannter angehen. Schließlich sei die Meinungsfreiheit laut ihnen weiterhin existent. Jedoch wird es als wichtig erachtet, diskriminierendes Verhalten anzuprangern und dafür entsprechende Konsequenzen zu fordern.

Kleinere Gruppen, welche meist bei Debatten keine Stimme haben, können bei Online geführten Diskussionen ihre Meinung vertreten. Dabei wird das Bewusstsein gegenüber Ungerechtigkeiten geschärft und Missstände in der Gesellschaft aufgedeckt.

Schwierig wird es nur, wenn sich das „Canceln“ lediglich auf Vermutung und Gerüchten stützt. Kritik zu äußern, wenn sich jemand tatsächlich problematisch verhalten hat ist die eine Sache, doch aufgrund von Hörensagen und Gerüchten unschuldige Personen an den Pranger zu stellen ist ein No-Go.

Mehr zu den Megatrends findet ihr hier!

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©Gerd Altmann auf Pixabay